Zukunft Vererben, Ticino Tempesta

Projektaufgabe
Semesterarbeit
Ort
Castel San Pietro zwischen Mendrisio und Chiasso
Studierende
Frau Sauter Pauline | Herr Bischof Elischa
Betreuung
Prof. Dr. Elli Mosayebi
Fachhochschule/Uni
ETH Zürich
Semester
Herbstsemester 2022
Fachrichtung
Architektur

Architektur verkörpert Dauer und Zeit. Sie umfasst die Zeitlichkeit alltäglicher Verrichtungen, des kleinen und grossen Unterhalts sowie notwendiger Reparaturen und Erneuerungen zum Schutz vor Baufälligkeit, Verwitterung und Zerfall. Seit den 1970er Jahren hat die Schnelllebigkeit im Bauwesen durch die Industrialisierung zugenommen, da Baumaterialien nun als Produkte mit Ablaufdatum und kurzen Erneuerungszyklen bereitgestellt werden. Diese ökonomisch getriebene Form der Kurzlebigkeit ging auf Kosten einer nachhaltigen Lebensweise. Im Semester fragen wir: Gibt es auch eine ökologische Form der Kurzlebigkeit?

Dieser Frage sind wir durch eine Auseinandersetzung mit dem Kulturerbe des Tessins nachgegangen. Wir haben erkannt, dass die spezifischen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen unserer Zeit den scheinbar einfachen Akt des Weitergebens in einen komplexen Prozess verwandeln. In unserer schnelllebigen Gesellschaft steht das Prinzip des Erbens unter immensem Druck, da das Neue ständig vom noch Neueren verdrängt wird und somit der Raum für das Alte zunehmend schwindet. In diesem Paradoxon stellen wir uns die Frage, wie das Temporäre dazu beitragen kann, etwas Dauerhaftes zu bewahren.

Die Masseria di Vigino, ein ehemaliger Bauernhof in Castel San Pietro zwischen Mendrisio und Chiasso, ist ein Beispiel für dieses Dilemma. Die typische Bauernhaustypologie der Masseria entwickelte sich vom 15. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Bis in die 1970er Jahre lebten dort Bauernfamilien, bevor der Hof unrentabel wurde und der letzte Bauer 2003 auszog. 2007 wurde die Masseria als wichtige Zeugin des landwirtschaftlichen Erbes des Mendrisiotto inventarisiert. Doch aufgrund politischer Uneinigkeiten über die zukünftige Nutzung und Finanzierung steht sie weiterhin leer. Pläne zur Umwandlung der Masseria in eine Jugendherberge scheiterten, und in den letzten zwanzig Jahren führte der Mangel an Unterhalt zu zunehmendem Verfall. Das undichte Dach verursachte den Durchbruch der Zwischendecken und die Wände drohen nach aussen zu kippen. 2011 wurde das Dach provisorisch mit Folie abgedeckt und Stützstreben an der Fassade angebracht. Doch auch im Angesicht dieser existenzbedrohenden Umstände fand sich keine Lösung und die Masseria verfiel weiter.

Unser Projekt erkennt sowohl den Wert der Ruinen als auch den der restaurierten Objekte an und konzentriert sich dementsprechend auf die Übergangsphase, um eine neue Perspektive für die Masseria zu bieten. Die temporäre Typologie der Baustelle soll sichtbar und erlebbar sein und den Prozess der Pflege des kulturellen Erbes öffentlich machen. Vom ersten Tag der Restaurierung an soll das Gerüst nicht nur für die Bauarbeiten dienen, sondern auch für Besichtigungen und die geplante zukünftige Nutzung der Masseria als Unterkunft. Das Gerüst soll einen partizipativen Prozess mit den Bewohnern von Castel San Pietro ermöglichen, bei dem zukünftige Programme und Nutzungen getestet werden können, um Ideen für die Zukunft der Masseria zu sammeln.

Da die Wände der Masseria drohen, nach aussen zu kippen, werden entlang der Fassade Stütztürme errichtet, die Holzrahmen halten, welche die steinernen Wände stabilisieren. In diesen Stütztürmen werden dann die Schlafräume und sanitären Anlagen untergebracht. Filzzelte, die im Gerüst aufgehängt werden, bieten warme Schlafräume, während eine äussere Fassadenfolie vor Regen schützt. Der Innenhof der Masseria wird von einem Gerüstfachwerk überspannt und bildet darunter eine Werkstatt für die Renovierungsarbeiten. Darüber, zugänglich über die Treppe im Süden, befinden sich die Gemeinschaftsräume der Jugendherberge sowie das Baustellenbüro. Das Gerüst wird von einem Baustellentextil umhüllt, das tagsüber dank eines Zugmechanismus geöffnet werden kann und den Blick auf das Mendrisiotto freigibt.

Der Renovierungsprozess ist in Phasen über fünf Jahre geplant. Mit fortschreitender Renovierung werden die Räume vom Gerüst in die renovierte Masseria verlagert, wodurch das Gerüst programmatisch mit dem bestehenden Gebäude verknüpft wird. Im Jahr 2023 werden sowohl das Gerüst als auch die Stütztürme errichtet und somit die Unterkunft eröffnet. Ein Jahr später wird der Ostflügel in ein Bistro umgewandelt, das den anfänglichen Foodtruck ersetzt. Die Renovierung des Westflügels folgt 2024, wobei die Hotelrezeption im Erdgeschoss installiert wird und die sanitären Anlagen vom Gerüst in das Obergeschoss verlagert werden. Anschliessend werden die Struktur und das Dach des Hauptgebäudes repariert, wofür ein zusätzliches temporäres Regendach erforderlich ist. Gegen Ende der Renovierung wird das Innere des Hauptgebäudes in Schlaf- und Gemeinschaftsräume der Jugendherberge umgewandelt. Sobald die Struktur gesichert ist und Schlafräume in der Masseria eingerichtet sind, können die Stütztürme schrittweise demontiert und das Gerüst entfernt werden.